vom wortgebrauch her ist "die wirklichkeit" nah am wirken gedacht, am wahrnehmen und handeln, d.h. am konkreten leben, während "das utopische" eher fern davon angesiedelt ist, es ist u-topos, ortlos, d.h. irgendwo im freien raum des denkens und vorstellens. ich will aufzeigen, wie die wirklichkeit in ihrem konkreten vorkommen - beim erkennen von dingen, in der wahrnehmung nämlich - durchsetzt ist von utopie.
beginnen wir mit einer modellvorstellung.
die wirklichkeit der dinge ist eine aussenwelt, sie steht uns gegenüber, wir nähern uns ihr durch die arbeit der sinne. die wirklichkeit der gefühle, vorstellungen und ideen ist eine innenwelt, wir tragen sie in unserem bewusstsein und unterbewusstsein mit uns herum. wir bringen diese beiden arten von wirklichkeiten in unserem leben miteinander in verbindung. - diese modellvorstellung - das aussenwelt /innenwelt-modell - ist falsch.
versuchen wir ein anderes wirklichkeitsmodell.
im bereich der sinnlichen wahrnehmung gibt es zunächst ein chaos von physischen reizen, von denen millionen auf elektrochemischem wege in das zentralgehirn geliefert werden, wo aus einer mischung aus sinnlichen reizen, gedächtnis- und willensfaktoren, ideenhaftem, begrifflichen formen usw. - also in der individuellen vorstellung - die wirklichkeit allererst entsteht. dieses modell sinnliche daten + geistige verarbeitung = wirklichkeit - ist ebenfalls falsch.
nun können wir allerdings nicht anders als uns sachverhalte des wahrnehmens, fühlens, denkens, träumens usw. - also einsichten in das was "die wirklichkeit" ist - über modellvorstellungen klarmachen. versuchen wir es also nocheinmal.
unser leib, unser konkretes handelndes selbst (ich meine damit nicht nur den körper, dieses anatomische ding, das unseren aktivitäten wie andere dinge
zur verfügung steht) fordert mit seiner unbändigen lebenskraft die weltbegegnung durch nie endende handlungen heraus. der urgrund der erkenntnis ist zugleich der urgrund des lebens, es ist das interesse des leibes an der welt. am anfang sind also nicht die dinge, erst recht nicht das wort, d.h. das begriffliche, am anfang (der erkenntnis) ist vielmehr die fragehaltung des leibes, die in seiner gestik liegt, gestik ist dabei die ausdrucksvolle darstellung der bewegung, mit dem das selbst nach der welt fragt. schon vor der geburt nimmt der leib in einer unregelmässigen folge von suchbewegungen bestimmte haltungen ein, die zugleich sinnliche ereignisse (mit tastenden anfängen, höhepunkten und entspannungen) und geistige versuche (mit dem interesse an sinnvollen ordnungen in raum und zeit) sind. der leib ist sogleich ein wahrnehmender und konstruierender, ein reagierender und phantasierender. dabei ist er vom ersten augenblick an darum bemüht, sich als ein handelndes subjekt gegenüber einer welt zu artikulieren, in die er sich eindreht, von der er sich abstösst, die er sucht und verlässt. sein leben hängt von seinen aktionen ab, zuerst betreibt er die ablösung nach innen in die wässrige sphäre des bauches, dann die ablösung nach aussen in die spröde sphäre der atemluft (ein schrei erweist sie sogleich als medium der verständigung aus der ferne). der leib arbeitet unentwegt auf die welt zu, die er sich gegenüber konstituiert, indem er hörbilder, tastformen, sehbilder erzeugt, zunächst synaesthetische szenen, in denen unmittelbar die sehnsucht nach den dingen liegt. aussen und innen sind kaum geschieden, es gibt noch nicht "aussenwelt" und "innenwelt". die konstrukte dieser frühen erkenntnis tragen sowohl sinnlichen stoff in sich als auch tendenzen der unterscheidung lind der wiederholenden erinnerung, d.h. geistiges. gewiss, ideenhaftes ist hier noch nicht begrifflich ausgebildet, es gibt noch keine namen für mama und milch lind daumen und brust. aber die ersten bewertungen, sehnsucht, not, sympathie und ablehnung, sind schon mit gesten verbunden, d.h. mit darstellungsformen, die wiederholbar sind und zu einem verhaltens-katalog gehören: sie werden als elemente einer sprache des leibes eingesetzt.
in dieser atmosphärischen, vielschichtigen welt entsteht der sinn für "die wirklichkeit" der dinge. in unserem zusammenhang müssen wir einige beobachtungen festhalten:
1. die welt entsteht nicht ohne such-aktionen des leibes, d.h. die qualität auch der einfachsten erkenntnis hängt von den bewegungen des leibes ab, sie ist von vornherein raumzeitlich.
2. schon bei der arbeit der sinne entsteht geistige struktur, d.h. der weltzusammenhang mit kausalen und raumzeitlichen ordnungen.
charakteristisch für die erzeugung von "welt" durch den menschlichen leib ist dessen kreatives, gestalterisches vorgehen. begriffliche konventionen führen - wie wir wissen zur erkenntnis von "dingen", aber wir dürfen nicht vergessen, dass tausendfache spielmomente bei der vermischung von sinnlichen reizen, erinnerungen, ideen usw. nicht zur erkenntnis von dingen, d.h. zur realen wirklichkeit führen, jedoch kaleidoskopisch vielerlei vorstellungswelten eröffnen, die den stoff für träume, kunstwerke, spiele, märchen usw. abgeben.
wenn ich also bei der suche nach wirklichkeit vom "utopischen" spreche, so stellt sich heraus, eine wirklichkeit ohne utopisches gibt es gar nicht. "utopien" in diesem sinne sind konkrete darstellungen utopischer systeme, z.b. soziale, technische oder architektonische utopien, die im historischen zusammenhang der geistesgeschichte eine rolle gespielt haben und deren gestaltung als kulturelles gut in texten, zeichnungen etc. ablesbar ist. "utopische elemente" aber, d.h. auf zukunft hin gedachtes, geahntes, schwebend im freien raum der geistigen figuren, dieses salz der bedeutungen, gibt es nicht nur im bereich grosser geistiger taten und im historischen zusammenhang, sondern in jedem augenblick unserer wahrnehmung.
zum schluss erlaube ich mir eine hinwendung zum architektonischen entwerfen. das ziel dieser arbeit des architekten ist, pragmatisch gesprochen, das zu realisierende bauwerk. jeder entwerfer aber weiss, dass die sich unter der hand verändernde wirklichkeit des entwurfs (der entwurf als ein auf unser gefühl, auf verstand und gedächtnis wirkender) durchaus nicht erschöpft ist durch die einkomponierten hinweise auf das zu bauenden werk. das wäre zu wenig und auch zu gefährlich, vor allem aber zu plump. eine atmosphäre von möglichkeiten rings um die konkrete entwurfsidee ist mitgemeint, der betrachter soll doch eingeführt werden in eine geistige landschaft, in der mögliche sinnliche erlebnisse wabern ebenso wie anspielungen auf gehabtes, historisches, aber auch hoffnungen auf nie gekanntes, freistösse der phantasie, unbeschreibbare ...
sieh da: herstellungsvorgänge und konzeptionsvorgänge im bereich der kunst - auch der architektur - haben doch erstaunlich viel zu tun mit den oben beschriebenen urvorgängen der erkenntnis von "wirklichkeit"! in der kunst beim erzeugen wie beim rezipieren - gibt es nicht eine fixierte realität, es gibt viel mehr vorgänge der produktion und der aneignung, in denen begrifflich überformte "realitäten" eine rolle spielen, ebenso intensiv aber andere arten von wirklichkeit, in denen mancherlei vorstellung, angedeutetes gefühl, wunschwelt, kurz "utopisches" mitschwingt.
prof. dr.-ing. wolfgang meisenheimer ist professor an der fh düsseldorf lehrgebiet "grundlagen des entwerfens", mitherausgeber von daidalos (berlin); architekt, künstler und theoretiker und lebt in düren.
aus: transreal / wirklichkeit und andere realitäten / herausgegeben vom institut gta der eth zürich im gta verlag
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