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andré friedmann berichtet, wie er während einer archäologischen expedition durch das peruanische hochland »in einem dorf namens zurite auf ein bauwerk unbestimmten ursprungs und ungeklärter geschichte stiess … eine wahre fundgrube von hinweisen auf das absolute rätsel, das wir raum nennen«. die peruanischen bauern äusserten sich in einer reihe von interviews eingehend zur konstruktion des baus. friedmann beabsichtigte, ein transkript der gespräche zu veröffentlichen. sein jäher tod bei einem helikopterunfall liess die angefangene studie unvollständig bleiben und hat uns seiner schlussfolgerungen beraubt.
mögen die folgenden anmerkungen als begleichung einer alten schuld verstanden werden sowie als zeichen einer freundschaftlichen oder vielmehr gutnachbarlichen beziehung, als wir jahrelang identische balkone auf der gegen überliegenden seite derselben strasse bewohnt haben.
la posa
im peruanischen hochland gibt es ein dorf namens zurite. es liegt auf 3.391 meter höhe, hat 3.402 einwohner. die abweichung der beiden zahlen verhindert, dass dieses durchschnittsdorf zu einem vollkommenen gleichnis wird. am westhang des vilcabamba-berges gelegen, wird es von einem zubringer des flusses apurimac bewässert. getreide, quinoa, kakao und kartoffeln. alpacas und vicunas.
einmal im jahr, jahr um jahr, pflegen die dörfler mit einer gleichgültigkeit, die an verachtung grenzt, eine baulichkeit zu verbrennen, die sie kurz zuvor neben dem dorfplatz errichtet haben. die »posa« von zurite, wie sie das bauwerk nennen, ist ein gebäude, das aus langen stangen, schmalen latten und stricken besteht.
zu sehen ist bei der posa nicht viel. zwei gleich hohe wände bilden ein spitzdach. auf jeder seite befindet sich eine türähnliche öffnung: ein ein- und ein ausgang, die beliebig benutzt werden. auffallend ist allenfalls das fehlen jeglicher wandverkleidung. die senkrechten stangen sind mit waagerechten traversen verbunden, an denen wiederum die kürzeren latten befestigt sind. das traggerüst steht. aber keinerlei grasabdeckung oder sonstiges dach. knapp ein rahmen. obwohl die dorfeinwohner die posa als haus bezeichnen, erweckt sie eher den eindruck einer gebäudeskizze. ohne jeden ersichtlichen grund betritt irgendeiner der dorfbauern das bauwerk. er hält sich einige sekunden oder einige minuten darin auf. aufrecht. ruhig. bewegungslos. danach geht er wieder ins freie. einige stunden später, oder am nächsten tag, kommt ein anderer passant vorbei, der wiederum einen augenblick oder eine stunde darin zubringt. die anderen einwohner von zurite gehen scheinbar gleichgültig ihrem tagwerk nach, ohne dem eingetretenen die geringste beachtung zu schenken, selbst wenn sie nur wenige meter von der posa entfernt sind.
überraschend an der konstruktion ist weniger das fehlen jeglicher funktionalität als vielmehr deren absolute transparenz, die sich jeder vorstellung von heimstatt oder zuflucht widersetzt.
in den von friedmann durchgeführten interviews beschrieben die peruanischen bauern, ebenso präzise wie paradox, was sie während eines solchen aufenthalts empfanden. ihre erläuterung sollte nicht allein im hinblick auf den ihr innewohnenden poetischen sinn begriffen werden; ebensowenig im hinblick auf ihre religiöse bedeutung, auch wenn a. valente sie als »eine erfahrung beschreibt, deren letzter sinngehalt die leere ist, sofern sie als verneinung jeglichen gehalts begriffen wird, die wiederum das gegenteil des transparenten zustands ist, in dem eine mystische wahrnehmung möglich wird«. damit wird jegliche erläuterung der antwort sinnlos oder überflüssig. »ihre empfindungen im inneren des baus?«
»als ob man in einem dunklen zimmer wäre; jawohl, als wäre man unbeweglich in einem dunklen zimmer.«
leben auf einem balkon
stilistisch ist das unscheinbare gebilde äusserst schlicht. zwei wände, die sich mit der oberkante aneinanderlehnen und über dem boden ein gleichschenkliges dreieck bilden. etwa vier meter lang und sechs meter hoch. so geräumig, dass zwei menschen aneinander vorbeigehen können oder drei oder gar vier bewegungslos darin stehen können. nicht so sehr ein haus, sondern das sinnbild eines hauses. in einer konstruktion, deren formen »keine evolution aufzuweisen scheinen, sind sie einfach da, als ob sie immer dagewesen wären. deswegen steht ihnen jeder linguistische gestus fern. sie sind stumm.« die beschreibung von v. scully als hinweis darauf, dass die formale erscheinung der posa mit dem detailreichtum und mysterium eines spiegels das leben dupliziert, das sich in ihrem inneren abspielt. der raum ist weder majestätisch noch heilig-erhaben. es verbürgt bloss, dass das lange schweigen im inneren von niemandem gestört wird.
einmal eingetreten, bleibt der passant innerhalb der vier meter stehen. ob er nun gerade vor sich hinblickt oder aus dem augenwinkel nach rechts oder links späht, reden wird er nicht. »das absolute rätsel« ist in diese spezielle stille eingehüllt. durch sein schweigen bewahrt der passant das geheimnis aller schweigenden, die dem raum zuvor innegewohnt haben. und dennoch, tanzenden stäubchen nach dem vorbeimarsch der parade gleich, bleibt eine frage offen. ob dieser ort der verbindung und sammlung zugleich auch eine wohnung, ein heim zu sein vermag? jedenfalls ist er mehr als ein denkmal, mehr als ein symbolisches gebilde, das sich als haus tarnt. ein korridor, möchte man präzisieren, der durch das gelegentliche beschreiten noch lange nicht zum haus wird. andererseits: hätte sich der peruanische bauer für die zeremonie eine beunruhigende form oder ein komplexes geometrisches gehäuse gewünscht, hätte er sich nicht für das sinnbild eines hauses, eines beliebigen hauses oder beliebigen leeren hauses, entschieden.
in »totalität und unendlichkeit« bestätigt e. levinas, dass ein heim, »das haus, für das man sich entscheidet … das absolute gegenteil einer verwurzelung ist. es bezeugt vielmehr die nomadische lebensform, die das haus überhaupt ermöglicht hat«. es bestätigt, dass das wesen eines hauses nicht so sehr darin besteht, dass es einen wurzeln schlagen lässt, sondern vielmehr die »nomadische lebensform«, die, francesco dal co zufolge, »die existenz überhaupt ermöglicht«. in unserem fall ist der passant nicht ein schlichter voyeur, der zeit totschlagen will. im gegenteil, der peruanische bauer, der die posa betritt, gelangt zur würde dessen, der sich an einem ort aufhält, wo nichts geschieht weder mit ihm noch überhaupt.
wenn für einen bauern, der sich in dem gebilde auf der plaza von zurite aufhält, die zeit vergeht und eine gelegentliche erfrischende brise ihn dieses vergehen der zeit empfinden lässt und ihm, der sich dort aufhält, nichts geschieht, so nimmt er den raum doch durchaus konkret ein. wie man sich auf einem balkon aufhält, wo alles in der schwebe bleibt und nichts entschieden ist. ein mann, der sich auf ein balkongeländer stützt (sich dabei der ewigen dämmerung hingibt), wird von einer räumlichkeit umgeben, die einerseits einem bestimmten physikalischen zustand entspricht, andererseits wiederum durch die konstitutiven gegebenheiten ebendieses zustands definiert wird. so gesehen ist der balkon nicht nur ein ort, sondern ein raum. und die person, die an diesem ort des absoluten übergangs innehält, solange sie sich dort aufhält, dessen bewohner.
der peruanische bauer, der still und schweigsam im zentrum der posa steht, aufmerksam, zukunftslos, weil ihn nichts erwartet, erfasst darin sein eigentliches zentrum. schon beim eintreten weiss er, dass beim herauskommen alles genau so bleibt, wie es ist; dass keine unvermuteten einfachen lösungen oder glücklichen schicksalswendungen stattgefunden haben werden.
intervalle
kreuzweg. ort des übergangs. raum, dem eigenen exil eingeschrieben. intervall. der flüchtige raum, den dies haus einnimmt, konzentriert und erweitert den anderen raum, auf den sich sartre einst bezog: »der ursprüngliche raum stellt sich mir von pfaden und strassen durchkreuzt dar.« die posa ist keine raststätte für den reisenden aus der ferne. der bauer aus zurite hält dort zwischen zwei aktionen inne, um einen augenblick des aufgehobenseins zu erfahren. das gebäude, zu dem alle wege führen, sich darin kreuzen, ermöglicht seinem bewegungslosen okkupanten, sich in einem raum des gehens und kommens aufzuhalten. in einem mittelpunkt, wo sich die distanzen nach allen richtungen überschneiden. sofern sich zwei oder mehr pueblo-bewohner darin begegnen, sprechen sie sich nicht an. keiner kommt aus neugier her oder um dem brummen eines insekts zu lauschen. ein bau, in dem nichts erhofft, niemand erwartet wird. in dem nur das geheimnis der sich überschneidenden pfade abgehandelt wird.
geoffrey scott, der sich damit wohl als schüler berensons erweist, versuchte, die besonderheit aller baulichkeiten auf einen nenner zu bringen. scott meinte, beim betreten einer kirche würde der raum, wenn man die lange säulenperspektive aus dem hintergrund des kirchenschiffs betrachtete, eine bewegung hin zum altar suggerieren: »eine bewegung ohne sinn, die nicht zu einem höhepunkt strebt, widerspricht unseren impulsen, ist unmenschlich.« aber auch dem peruanischen bauern erscheint jede strasse als trajekt, das irgendwohin führt. gerade ihre ausrichtung und vermittlungsfähigkeit machen die strasse ja zur strasse. die etwa zwei meter im zentrum der posa heben die ausgerichtetheit der sich darin kreuzenden wege auf. weil es auf der kurzen wegstrecke, die das haus einnimmt, keine endgültigkeit gibt. kein ort, um opfer darzubringen, sondern nur eine andere strasse.
wäre die posa ein heiligtum statt eines nullraums, entspräche sie eher dem weitläufigen inneren einer arabischen moschee oder der zentrifugalen kraft des byzantinisch-maurischen raumes als den theatralischen kurven und drapierungen des barock.
kreuzweg. ort des übergangs. raum, dem eigenen exil eingeschrieben. haus/intervall. wo die bewegung negiert wird und zugleich pfade eröffnet werden.
die stimme des bauern
die sprache, die man in den interviews andre friedmanns hört, ist klar und knapp. »die posa stammt aus der vorzeit. sie ist das erste haus, das unsere ahnen in zurite bauten. deswegen verwenden wir jedes jahr hölzer aus unseren häusern, die wiederum vom ersten abstammen, wie saatgut.« auf die frage, warum sie vor der zerstörung der posa einige hölzer entfernen, setzen sie, laut friedmann, »dies holz wieder ein, um andere wände oder böden zu bauen als die, von denen sie dieselben entfernt haben«. holz kommt und geht. woher und wohin, spielt für den peruanischen bauern keine rolle, solange dadurch die verbindung zum »ersten haus» aufrechterhalten wird.
»einmal im jahr bauen wir die posa auf und machen sie stets im gleichen jahr wieder kaputt«. die einwohner zurites halten, was die zeitliche abfolge angeht, ihr ungeschriebenes gesetz exakt ein. doch ob das gebilde nun einen oder dreihundertfünfundsechzig tage zu stehen hat, wird von der tradition freigestellt.
jedes jahr »bauen wir sie an einer platzseite«. stets vom platzmittelpunkt abgerückt, ohne je festzulegen, ob nach rechts oder nach links. zwei wände, die ein spitzdach bilden und auch in ihrem halbfertigen zustand gleich als haus erkannt werden. als friedmann einige der erbauer der posa interviewte, erklärten sie ihm, die regeln würden von den eltern an die kinder weitergegeben, von generation zu generation. keiner konnte erklären, wieso sie jedes jahr abgerissen wurde oder wieso sie »an einer platzseite« verankert werden musste.
ursprung
»die posa … ist das erste haus.« die erste grotte. erste höhle, erste hütte, erstes haus, erster zu wohnzwecken errichteter bau. darüber, wie und wieso das erste haus errichtet worden ist, gibt es mehr theorien als historiker, die eine jede glauben. b. flechter zufolge ist das haus ausschliesslich als witterungsschutz entstanden. milizia glaubt an nachahmung der natur. rykwert beruft sich auf den zwang der umstände. von der kate vitruvs bis zu chambers primitiver hütte (wobei beide die konische bauform für die einfachste halten) beziehen sich die unterschiedlichsten vorstellungen über die erscheinungsform des ersten hauses durchweg und unterschiedslos auf dieselben klassifikationen: klima, materialeinsatz, schutzfunktion. alle halten sie den ursprung für einfach und bescheiden, und hauptsächlich auf das bedürfnis zurückzuführen, sich von der aussenwelt zurückzuziehen.
die posa in ihrer transparenz bietet sich den unbillen der witterung geradezu verächtlich dar. sie besteht aus materialien, die weit mehr einer halbvergessenen parabel entsprechen als den materiellen anforderungen der sie umgebenden wirklichkeit. eine schutzfunktion widerspricht ihrer bestimmung als schwelle. die posa scheint etienne-louis boullées hypothese der darin albertis unterscheidung von konzept und ausführung aufgreift und übertrifft verwandt, der zufolge die ersten menschen ihre baulichkeiten erst errichten konnten, »nachdem sie sich ein bild von den selben gemacht hatten«.
in seinem essay »der stil« erwägt gottfried semper (bemerkenswerterweise auch ein freund schinkels) »die anfänge der konstruktion könnten mit denen des webens koinzidieren«. [rückübersetzt] somit liesse sich behaupten, dass die mit schnüren zusammengebundenen stöcke und latten der posa dem bild der ersten von menschen erfundenen raumeinteilung entsprechen: »der einfriedung aus geflochtenen und zusammengebundenen stöcken«. [rückübersetzt]
nur der grosse französische historiker andré leroi-gourhan wagte, eine weitere möglichkeit ins auge zu fassen. leroi-gourhan wies auf die bekannte tatsache hin, dass die ersten erhaltenen baulichkeiten zeitgleich mit den ersten rhythmischen markierungen entstanden sind. wenn auf höhlenwände eine reihe von punkten, gebrochenen linien und symbolischen zeichen gemalt wurden formen, in denen das mysterium gestalt annahm , hätte die gleiche symbolik aus der höhle auf die erste gebaute bleibe übertragen werden müssen.
soweit es sich dabei um gesicherte archäologische fakten handelt, lässt sich daraus (mit oder ohne zustimmung leroi-gourhans) schliessen, dass für die ersten häusern der symbolische impuls wichtiger war als das zwingend praktische erfordernis; dass rhythmische markierungen das innere und äussere des ersten gebäudes gestalteten; dass die verwobene einfriedung (mit oder ohne zustimmung sempers) eine abfolge von knoten war, ehe sie wand wurde. und damit haben wir den ursprungsort des labyrinths erreicht. das ornament hat, so paradox das klingt, vorrang vor der struktur. das haus war zeichen, ehe es schutzraum wurde. ein mit den vielfältigsten allegorien versehener symbolträger, bevor es als wohnstatt diente. ein schwarm ungesicherter unterstellungen, hinter denen sich die eine wohlüberlegte tatsachenbehauptung verbirgt: dass sich der peruanische bauer mit dem »ersten haus«, das er in der posa von neuem zu errichten sucht, jahr um jahr einen andersartigen bezugsrahmen setzt.
andere zeitweilige häuser
»einmal im jahr bauen wir die posa auf und machen sie stets im gleichen jahr wieder kaputt.«
ein anderes zitat, anderen ursprungs, aber genauso exakt: »unsere kirchen werden zwischen sieben und acht metern breit sein, wobei die länge und höhe diesen vorgaben zu entsprechen hat.« überraschender als die mässigung und bescheidenheit der beschreibung einer karmeliter-kirche, die st. johannes vom kreuz unter aufsicht der heiligen theresa 1581 niederschrieb, ist die genauigkeit der masse. die glühende frömmigkeit sankt theresas, die sich in der schlichtheit und strenge ihres bettlerordens erweist, hätte aus ihren himmlischen höhen gewiss anstoss an der provisorischen kirche genommen, die valladolid zu ehren ihrer heiligsprechung errichtete. in dem 1615 verfassten aufsatz über zeitweilige bauten schreibt rios hefia, dass die karmeliterinnen sich entschieden, für ebendiese feierlichkeiten eine neue kirche zu planen, weil es im stadtzentrum keine gab. »indem sie eine strasse von wand zu wand mit beschlag belegten«, wurde eine neue hölzerne kirche errichtet, die wenige tage später »mit geschick und eigenartiger entschlossenheit« demontiert wurde. eigenartigerweise betrug die strassenbreite sechsunddreissig fuss, knapp acht meter. die verbindung von zufall und ordnung erreichte ihren rhetorischen gipfel in der fassadengestaltung. denn diese wurde auf der rückseite wiederholt, so dass die gläubigen beim verlassen der kirche dieselbe fassade erblickten, die sie beim betreten der kirche gesehen hatten.
bonet correda berichtet, dass die häuser im 18. jahrhundert mit scheinfassaden versehen waren. wie triumphbogen oder zeitweilige gebäude blieben die hausverkleidungen »drei, vier, fünf oder gar sechs tage« stehen. mit ausnahme der porta nuova von palermo oder dem arco de santa maria de burgos, die zu bleibenden werken wurden, wurden alle die baulichkeiten wenige tage nach ihrer errichtung wieder zerstört.
die zeitlichkeit bestimmter bauten lässt sich unterschiedlich interpretieren, entsprechend ihrer historischen epoche oder ihrem geographischen ort. das alter eines klassischen japanischen gebäudes wird daran gemessen, wie oft seine bestandteile ausgetauscht worden sind. wenn man in der geschichte nach analogien für die posa sucht, stösst man auf zahlreiche und vielfältige korrespondenzen. im verlauf der letzten tausend jahre ist der bekannte ise-shinto-tempel alle zwanzig jahre abgerissen worden, um durch einen identischen nachbau ersetzt zu werden.
sie alle könnten als ständig verschwindende häuser bezeichnet werden. im laufe der zeit finden sie ihre einzige dauer in der beschreibung.
die posa nähert sich den vielfältigen gestaltungsmöglichkeiten der karmelitischen kirchen an, während sie sich vom barocken zierrat oder der ständigen renovation distanziert. ihr verwandter ist der stellenwert, den afrikanische oder ozeanische stämme ihren statuen zusprechen. so schreibt susan kuechler in ihrem aufsatz »absent meaning: death and the resurrection of the objective value« (das fehlen der bedeutung: tod und auferstehung des objektiven werts), dass dadurch, dass westliche museen und sammler schnitzwerke und rituelle artefakte der ozeanischen stämme aus neu-irland erwarben, die vielfalt der nachahmungswürdigen formen immer mehr abnahm. sie berichtet, dass nur diejenigen stammesmitglieder, die ein bestimmtes stück erwarben und es daraufhin zerstörten, das recht erhielten, es neu zu reproduzieren. solange das objekt besteht, ist diese berechtigung aufgehoben. auch die erbauer der posa empfinden den zusammenhang von form und deren zerstörung als geschlossenen kreislauf.
saatgut
»deswegen verwenden wir jedes jahr hölzer aus unseren häusern … wie saatgut.«
wie die fragmente ordnen, die die posa bilden und charakterisieren? wobei jeder stock nicht nur ein kreuzungspunkt zwischen wandoberfläche und wandunterbrechung darstellt. jeder holzsplitter gehört zu einer auseinandergeborstenen form und wird ihrer wieder teilhaftig sein.
jede latte entstammt zahlreichen früheren bauten. angenommen, die scheinbare ursache für den bau hätte sich erledigt, das gebäude hätte zu verschwinden. nur kann man nicht verschwinden lassen, was bereits aufgelöst ist. jeder baumast wird wieder strassenecke, masse, kreuzungspunkt, während er zuvor ein zaun oder eine mauer war.
zu den vielen paradoxen, die die eigenart dieser räumlichkeit in frage stellt, gehört die feststellung, dass sie niemals gänzlich zerstört, sondern allenfalls neu errichtet werden kann. dadurch, dass das neue gebäude jedes jahr in brand gesteckt wird, endet zwar seine erscheinungsform, aber nicht sein daseinszweck. dadurch, dass es seine zyklische funktion erfüllt, setzt es zwar den irrlichtern seiner form ein ende, aber nicht dem geschlossenen kreislauf der gesetze, denen es unterworfen ist. die zerstörung der formalen ordnung ist eine dynamische reaktion, denn die elemente, die die konstruktion bestimmten, waren bereits bestandteile eines verfallsprozesses und werden nach der zerstreuung wieder in eine neue fraktale geometrie eingeordnet.
das fragile geflecht von holzstückchen scheint auf die unvorhersehbarkeit jedweden strebens nach dauerhaftigkeit hinzuweisen. und dennoch wird die behauptung der ungewissheit jährlich wiederholt. der bauer hält an der tradition fest, einige latten, die er als saatgut bezeichnet, von einem haus ins andere zu übertragen. nur gibt er mit nichts zu verstehen, wie die posa oder der pflanzort dieser saatgut-latten denn auszusehen hat.
wie lässt sich sicherstellen, dass die posa stets gleich aussah? könnte sie nicht einmal kreisförmig gewesen sein oder aus zwei einfachen stangengruppen bestanden haben, die einige meter voneinander entfernt in den boden gesteckt worden waren? ein korridor oder ein schlichter eingang? könnte nicht, zugleich mit dem vorsatz zur erinnerung, der sich jährlich manifestiert, ein weg des vergessens gefunden worden sein? die posa, die im laufe der zeit zur andeutung eines hauses wurde, veranschaulicht ihren historischen sinn, während sie zugleich die unmöglichkeit jeglicher dauer betont. dadurch, dass man ihrer dauer jedes jahr ein ende setzt, bestätigt man den dauerhaften charakter der tradition.
wenn sich die posa »vom ersten [haus] … wie saatgut« herleitet, wie sah dann die zweite und die fünfte aus, wo die samenkörner von der präkolumbianischen epoche bis zur heutigen gegenwart derart viele stilistische und bautechnische veränderungen über sich ergehen lassen mussten? könnte die bescheidene konstruktion nicht auch eine jährlich wiederholte geste sein, um an das gebot zur erinnerung der geschichte zu mahnen und gleichzeitig die furcht vor dem vergessen heraufzubeschwören?
transparenz
die peruanischen bauleute errichten die posa jährlich an einem wenig bemerkenswerten, aber nicht eigenschaftslosen ort abseits der plaza, am rande, am rande ihrer urbanen befindlichkeit. der bauort ist in keiner hinsicht exakt festgelegt und dennoch nicht völlig beliebig. der tradition zufolge muss die posa etwas abseits, aber nicht zu weit entfernt von dem ort aufgestellt werden, wo sie im jahr zuvor stand. irgendwo am rande der plaza. das ist alles.
dies gänzlich einsehbare, beinahe durchsichtige haus besitzt keinen eingang oder warteraum. ebensowenig einen korridor, da es insgesamt eine einzige schwelle darstellt. kein fenster, weil das keine öffnung bilden könnte. versteckt nichts und beherbergt nichts. wirkt furchterregend in seiner verkörperung des mysteriums der vollkommenen symmetrie. beim betreten wird der raum gegabelt. zwei neue, zuvor nicht existente möglichkeiten: der eingang wird zum ausgang und zur doppelspiegelung.
dem wäre hinzuzufügen, dass die exzessivität der plazierung zu den grundlegenden errungenschaften des gebäudes gehört. die posa wird neben und entsprechend ausserhalb der plaza von zurite errichtet: im zentrum der urbanen aktivität, wo ihre extraterritorialität und ihr abseitsstehen vom platz optimal zur geltung kommen. wenn, heidegger zufolge, »nur ein ort raum gewähren kann« [rückübersetzt], verbunden mit dem hinweis, dass »wir die dinge, die als ort raum gewähren, gebäude heissen« [rückübersetzt], lässt sich die posa als ort betrachten, der nur flüchtig besetzt wird, wobei das gebäude davor wie danach beispielhaft für die »grenzenlose impotenz des als heimstatt getarnten unterstands« steht, die massimo cacciari erwähnt.
vor dem autonomen bild i
das haus, ein archipel der symbole, verbringt die nacht allein. so kurzlebig wie die verschlussdauer, die die fotografie entstehen liess, die am betreffenden spätnachmittag dessen existenz rechtfertigt. seitliche aufsicht. gänzlich unvergilbt. aufgescheuchtes zeitkontinuum. plötzlich vergangen. keine spur von heimweh.
vor dem autonomen bild ii
die posa besteht gerade eben aus ein paar stöcken, die zufällig und unabgemessen zur hand waren. ein paar zufällig zusammengestellte, unabgemessene holzstücke vermögen einen ort zu umschreiben, der das nichts umfasst. ein zufallsort fast, der für einen kurzen augenblick jedweden glauben suspendiert; der dennoch auch von menschen bewohnt wird: wo die tage nicht rückwärts verlaufen und der boden gefegt wird, gnadenlos.
das autonome bild
die bauern, die zum rand der fotografie zu streben scheinen, sind wahrscheinlich die zerstörer der posa, wenn nicht deren erbauer. ein nagender verdacht. ob sie, wie die romanfiguren von flaubert oder tolstoi, nicht zu denen gehören, die niemals die geschichten kennen, deren protagonisten sie sind. novalis pflegte zu sagen, »der dichter tut nicht, er lässt geschehen«. worauf oktavio paz zweifellos geantwortet hätte: »wer tut dann?« wenn dem dorfbewohner von zurite, der im inneren der posa still steht, nichts geschieht und er nichts tut, wer ist dann der »macher«?
der peruanische bauer muss spüren, dass er beim betreten des gebäudes den begriff des habitats auf die äusserste spitze treibt. irgendwann wird er, auf seine weise, empfinden, dass er sich beim aufenthalt in dem gebäude ins eigentliche zentrum des raumes stellt, um mit und durch den raum eine erfahrung zu machen, die ein bewohnter raum nicht gewähren kann: die leere. wenn er die schwelle überschritten hat, muss er spüren, dass der raum weder flucht- noch aussichtspunkt kennt. und wenn der andere ort, von dem aus sich die dinge in die perspektive rücken lassen, nicht vorhanden ist, wie soll das gesehene vom sehenden unterschieden werden?
einmal mehr überquert ein mensch die plaza. er geht auf die posa zu. tritt ein. bleibt kurz darin stehen. geht raus. verschwindet. das haus, der raum bleiben allein. vielleicht, dass sie die abwesenheit der vorigen präsenz bewahren. die stunden vergehen. möglich, dass ein anderer bauer vorbeikommt. jemand ist gewiss in der nähe, aber wer immer das sein mag, er ist nicht zu sehen. die posa wird zum offensichtlichen zentrum der aufmerksamkeit. in ihrem durchsichtigen inneren scheint sich das fehlen jeglicher menschlichen präsenz zu verewigen, und zwar ohne jeden erkennbaren grund. ein ort, der die spannung zwischen aufhebung der menschlichen gegenwart und ihrer möglichen wiedererscheinung in sich aufgenommen hat. zwischen dem gehen und dem möglichen kommen.
gönnen wir uns ein letztes mal ein bild. das bild des bauern, der über die plaza schlendert. die hände in den taschen. er geht durch die tür der posa. hält inne. bleibt kurz stehen. möglich, dass er die hände aus den taschen nimmt. sie haben lange finger. er geht durch die gegenüberliegende tür heraus, die einmal eingang war und nun zum ausgang wurde. der schmale raum der struktur hat ein genau bemessenes innehalten in sich aufgenommen. wir wollen uns an die antwort zu anfang erinnern: »als ob man in einem dunklen zimmer wäre; jawohl, als wäre man unbeweglich in einem dunklen zimmer.«
das feuer
ort des übergangs. kreuzweg. raum, dem eigenen exil eingeschrieben. intervall. »platz der absoluten beschwörung«, wie j. a. valente die »xemaa-el-fna« nannte, die einst, in der frühzeit der marokkanischen sprache, »platz der zerstörung« hiess, die plaza von marrakesch, die gleichzeitige vereinigung der menge und der leere, ist, etymologisch betrachtet, ein ort der zerstörung. welcher zerstörung? ebenso die peruanische plaza; die posa wird verbrannt und zerstört. woher dieser impuls zur zerstörung? das tut im grunde nichts zur sache. dieses gebäude summe des innehaltens, der unterbrechungen, der aussparungen, vom zwischenspiel bewohnt ist schon durch seine bestandteile als provisorium definiert.
das anstecken der posa verbietet jeden anflug von nostalgie, dem hinweis auf entfremdung. einmal zerstört (und sie wird ziemlich gleichgültig zerstört), bleiben weder ein leerer raum noch brandspuren zurück. irgendwann im kommenden jahr wird sich an einem noch zu bestimmenden datum an einem noch zu bestimmenden ort ihr lattenwerk erheben. das gebäude ohne pädagogische berufung, den vielfältigen deutungsmöglichkeiten der eigenen vertrackten geometrie fremd, wird zwangsläufig und mitleidlos verbrannt.
im gegensatz zu anderen rituellen konstruktionen beruft sich deren zerstörung nicht auf das vorrecht des zeitgebundenen ritus, sondern auf die dialektische opposition zum haus als eventuellem ort der nostalgie. in den übrigen baulichkeiten von zurite verbinden sich sehnsüchte mit aufgegebenen hoffnungen bis die wände unter gebräuchen und gewohnheiten zusammenbrechen. damit ist die vernichtung der posa eine affirmative und kraftvolle geste, die das kontinuum der jahre mit dem beweis der distanz konfrontiert.
»einmal im jahr wird die posa gebaut und im gleichen jahr wieder kaputtgemacht«, fordert die tradition. so kommt es, dass eines morgens, eines monats, der bauer, beim betreten des korridors, den sie »posa« nennen, beim eintreten begreift, dass er nur eine geste wiederholt. vielleicht meint er beim eintreten wie beim verlassen nur gewöhnliche alltagsgesten zu wiederholen; und sich durch diese wiederholung des alltäglichen den empfindungen früherer besuche zu entfremden. er verliert, was ihm dort geschehen oder nicht geschehen ist. und so kommt es, dass eines morgens der eine oder andere peruanische bauer bemerkt, dass er mehrmals an der posa vorbeigeht, ohne das bedürfnis zu haben, sie zu betreten. und vielleicht bemerkt der eine oder andere gar, dass er seit tagen oder monaten nicht mehr durch den korridor gegangen ist, den er selber errichtet hat.
eines schönen tages kommen einige von ihnen, ohne weitere umstände oder beratungstermine, überein, dass niemand mehr den raum aufsucht. sie beschliessen daraufhin, etwas vom flechtwerk der baulichkeit zu entfernen. worauf sie sich, alleine oder zu mehreren, daranmachen, ohne weitere umstände die übrigen holzstücke zu verbrennen. die zerstörung erfolgt rasch und unvermutet. ein paar flammen und einige schattenhaft abgezeichnete gestalten, die dem feuer den rücken kehren und sich davonmachen.
epilog
tagtäglich kommen unsere gespräche immer wieder, vielleicht infolge der last der jahre, auf dieselben geschichten zurück. hauptmann giovanni drogo angesichts der tartarenwüste. leutnant grange angesichts der ardennen. in erwartung einer schlacht, die sie ebensosehr fürchten wie herbeisehnen: autonome figuren angesichts einer leeren wüste.
angesichts der sehnsucht ergibt sich, von zeit zu zeit, die möglichkeit, einen raum zu errichten, in dem der nachfolgende moment ewig verzögert wird, vielleicht gar nie stattfinden wird. ein raum, in dem die nächste zukunft niemals erfolgt.
ein anderer saal. ein anderer ort eines möglicherweise schwindelerregenden ereignisses. im new yorker metropolitan museum of art gibt es einen saal, der heute abgebaut ist. mögen die fotografien des aufgehobenen augenblicks des universums der möglichkeiten teilhaftig sein.
aus: umzug ins offene, 4 versuche über den raum
herausgegeben von tom fecht und dietmar kamper im verlag springerwiennewyork
stephen tree (aus dem französischen und englischen)
foto: archiv juan muñoz
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